Aus der Serie skurrile Orte: Lommatzsch, ein Pflegefall

 

…mein Agent gab mir den Tipp: flieg mal nach East-Germany. Dort gibt es einen geheimnisvollen Ort, der was mit deinem Kumpel Mario Girotti, aliasTerence Hill, zu tun hat. Eine kleine Stadt in Saxonia, nicht so sehr weit vom königlichen Dresden entfernt. Dann simste er mir noch die Daten durch: L o m m a t z s c h ! 51° 12′ N , 13° 18′ O . Klingt komisch, ist aber so. Er vergaß auch nicht, mich auf eine wichtige Location dortselbst hinzuweisen: ein Wohnhaus am Kreisverkehr, mit einer steinernen Erinnerungstafel. “ …Bud, guck dir das alles mal an, du wirst staunen…“ Ich steige also in meine Cessna und fliege los :mrgreen: . Ideales Flugwetter. Irgendwie in der Nähe dieses Lommatzsch sollte doch ein Landeplatz für meine Hummel auszumachen sein… Ich gehe auf 80 ft und sehe riesige Maisfelder, dazwischen auch mal 300 Hektar am Stück, die gerade abgeerntet, aber erneut besamt wurden. Ich kreise über der „Lommatzscher Pflege“ und suche nach einem geeigneten Landeplatz. Minuten später schnetzelt meine Cessna eine Schneise in ein Rübenfeld und kommt zum stehen. Festen Boden unter den Füßen, nehme ich zwei Gestalten wahr, die am Feldrand einen Joint rauchen. Daneben stehen zwei Fahrräder. Ungläubige Augen starren mich an. Meine Zigarre war in der ganzen Anflughektik ausgegangen und ich frage nach Feuer. Die Radfahrer scheinen paralysiert, fangen sich aber recht schnell. Wie sich dann in einem kurzen Dialog rausstellt, haben wir eine gemeinsame Mission: Wanted Terence Hill! Gemeinsam reiten wir, gesäumt vom meterhohen Mais, in die Metropole Lommatzsch. Das „Schützenhaus“, gleich rechts am Ortseingang, beherbergt eine Bowlingbahn und die Terence-Hill-Bar…Ich bin verblüfft. Hier hat ja mein Kumpel tiefe Spuren hinterlassen. Auch meine beiden Begleiter sind erstaunt, kennen sich aber in Sachen Personenkult, historisch bedingt, ganz gut aus und sind nicht so leicht zu beeindrucken. Leider öffnet die Bar offensichtlich nur zu besonderen Anlässen. Schade. Alternativ reiten wir gemeinsam in einer Marktschänke ein. Bei Roulade und Weizen erzählen mir die beiden, dass sie aus Leipzig herübergeradelt sind, um zu sehen, wie diese nordsächsische Siedlung mit den Erinnerungen an meinen Kumpel Mario umgeht. Wir stellen fest: eine Bar, ein Schwimmbad, ein Wohnhaus. Letzteres an einem Kreisverkehr gelegen und ziemlich unscheinbar. Das mit dem Schwimmbad finde ich noch am originellsten, da kommen alte Erinnerungen hoch und ich erzähle den Radlern, wie ich mit Mario in einer Mannschaft die Bronzemedaille bei den italienischen Jugendmeisterschaften im Schwimmen holte, wir später zusammen vor den Kameras standen und uns witzige Künstlernamen ausdachten. Mario hat einfach einen aus einer Liste gewählt, hatte vierundzwanzig Stunden Zeit und musste sich entscheiden. Terence Hill fand er gut, weil darin auch die Initialen seiner Mama stecken. Thieme, Hildegard. Die Frage nach meinem Künstlernamen ist einfach erklärt: Bud steht für Budweiser, mein erklärtes Lieblingsbier. Und Spencer Tracy war und ist mein Lieblingsschauspieler. Punkt. Die Kellnerin und später das komplette Gastropersonal kommen mit Autogrammwünschen. Meine Leipziger Freunde müssen auch ran und pinseln ihre Pseudonyme auf die Bierdeckel: Kranzabzieher und Herr Ritzel. Komische Deutsche, fahren unter alias durch die Gegend, sind wahrscheinlich auch Künstler. Die Köchin schwärmt mir inzwischen die Ohren voll, was der feine Herr Hill doch für ein herzensguter Mensch sei – hat dem Freibad eine Riesenrutsche geschenkt, damals im Mai 1998. Da kam Begeisterung auf. Und er käme jedes Jahr einmal nach Lommatzsch, um zu sehen, ob die Erdgeschoßwohnung in seinem Haus am Kreisverkehr noch frei ist. Es wird gemunkelt, er will seinen Lebensabend dort verbringen. Meine radfahrenden Freunde verabschieden sich, müssen wieder nach Leipzig. Die Rede ist von einer Rückfahrt über Döbeln und die Erkundung irgendwelcher Radwege. Mehrfach fällt die Bemerkung Bohnenkaffe und von fröhlichen Mönchen ist die Rede. Ich bestelle mir noch ein Budweiser, lege ein Zigarillo nach und wünsche den beiden einen guten Ritt nachhause. Als ich Stunden später auf dem Rübenfeld wieder in meine Cessna steige und noch einen Kringel über dem Muldental drehe, sehe ich die beiden Gestalten auf einem Asphaltband angestrengt der untergehenden Sonne entgegen eilen…

Alle Bilder von unterwegs…

Ein Gedanke zu „Aus der Serie skurrile Orte: Lommatzsch, ein Pflegefall

  1. Was wäre Lommatzsch für ein Ort, wenn nicht der ewig lächelnde Mario, der berühmteste Sohn dieser Stadt, dort seine Spuren hinterlassen hätte. Ansonsten ist Lommatzsch einer jener Orte, die in der Stadtmitte aufwendig restauriert wurden, wo aber jegliches Leben nahezu verschwunden ist.
    Eine wunderschöne Erzählung, halb fiktiv, halb real. Ein großes Kompliment an den Autor.

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